Über den Geist von Groß-Galizien

Desöfteren wurde ich gefragt, was für ein Land Groß-Galizien denn sei. Nun, aus dem Plakat ist es ja gut ersichtlich, daß es ein Land ist, wo oben gefährliche Flugzeuge fliegen, wo es mit der Kunst bergab geht, wo unten die Hühner im Dreck scharren und wo die Schweine immer wieder hochkommen: Also muß es ein sehr großes Land sein.
Der Geist von Groß-Galizien ist ein sehr komplizierter Geist. Man könnte ihn als den Geist der sich selbst regulierenden und regenerierenden Unfähigkeit bezeichnen. Es ist ein sehr mächtiger Geist, der selbst die Fähigen zwingen konnte, sich aus Überlebens-
gründen als Unfähige zu tarnen. Diejenigen, die zu dieser Tarnung unfähig waren, bildeten nun ihrer-
seits einen Klub der zur Tarnung Unfähigen als Geist der Opposition. Es standen sich also die harmonisierten Unfähigen und die unharmonisierten Fähigen, aber zur Tarnung Unfähigen, gegenüber. Dieser Geist der Opposition wurde vom Geist der Harmoniesierten sehr ernst genommen und durch ein umfassendes Sicherheitssystem bekämpft. Er konnte aber nicht beseitigt, sondern nur unterdrückt werden und in dem Auf und Ab und Hin und Her zwischen Lockerlassen und Repression, bildete sich so etwas wie ein gesellschaftspolitischer Unter- und Hintergrund unseres Geisteslebens heraus, wo man selten genau sagen konnte, wo der Geist der Harmonie aufhörte und der Geist der Opposition anfing. So ähnlich wie Ebbe und Flut das ganze Meer bewegt und man sich hüten muß, das Geschehen an seinen Uferrändern zu verabsolutieren. Dieser Geist der sich selbst regenerierenden Unfähigkeit ist nun ein uralter Geist, wenn er sich auch ständig progressiv nannte. Er stammt aus einer Zeit, als noch kein Mensch etwas von Kapitalismus und Sozialismus wußte und an gewissen Formen unseres Wirtschaftslebens konnte man erkennen, daß er aus einer Zeit stammen mußte, in der das Geld noch keine Rolle spielte. Es war ein Geist, der oft schreckliche Dinge hervorbrachte und hinterlassen hat, der Stilblüten von barocker Absurdität hervor-
brachte; aber es blühte auch oft manch selten schöne Rose und viele kleine Vergißmeinnicht. Aber er war trotz allem Geist und damit zielgerichtet und das unterscheidet ihn von der ziellosen schrecklichen Intelligenz der sozialen Marktwirtschaft, die eben kein Geist ist, sondern einfach nur Geld.
Im hellen Lichte der Öffentlichkeit steht nun der Ossi, der belastet ist mit dem Geist der Vergangenheit oder mit Geist und Vergangenheit. Im Gegensatz zum Wessi, der begnadet ist mit Intelligenz und Geld. Kann man die Situation nicht auch anders sehen, und vom Ossi sprechen, der begnadet ist mit Geist und Vergangen-
heit. Kann man nicht auch den armen Wessi bemit-
leiden, der unter der schrecklichen Bürde von 
Intelligenz und Geld fast zusammenbricht. Staunend erlebt der verblüffte Ossi, mit welch verbissener Hartnäckigkeit seine Vergangenheit bekämpft wird. Das können doch nur Leute machen, die ihre eigene Vergangenheit raffiniert wegrationalisiert haben oder sie verkauft haben, wie Peter Schlemihl seinen Schatten und den Geist ihres Erstgeburtsrechts eingetauscht haben gegen das Linsengericht einer fragwürdigen Intelligenz. Auf der Tagesordnung steht der Kampf von Geist und Vergangenheit gegen Intelligenz und Geld. Die Jahre 89 und 90 und 91 scheinen mir die Jahre der kolossalen Irrtümer und Illusionen zu sein. Es war eine Illusion, daß nach der Wende die Herrschaft der Bürokratie zu Ende wäre. Sie beginnt jetzt erst richtig. Es war ein Irrtum, zu glauben, daß mit der Einverleibung von 16 Millionen Deutschland jetzt ganz zum Westen gehört. In Wirklichkeit sind 70 Millionen näher an Witebsk und Kamtschatka gerückt. Der Mythos des 20. Jahrhunderts ist zu Ende. Der Mythos des 21. Jahrhunderts ist der Mythos von Groß-Galizien. Er steht jetzt schon mit ausgebreiteten Armen da und es liegt an jedem selber, ob er sich von ihm gefressen und verschlungen fühlt, oder von ihm liebevoll umarmt sein will. Es hat keinen Zweck, sich gegen diese Umarmung mit Treuhand, Abwicklung, Warteschleife, ABM und ähnlichen Auswüchsen einer großen Ratlosigkeit zu wehren. Der Geist mag, dem Schein nach, zur Zeit dem Geld unterliegen. Auf lange Sicht wird er siegen. Die Zukunft liegt in einem Land jenseits von Eden. Sie liegt in Groß-Galizien. In diesem Sinne heiße ich alle Anwesenden herzlich willkommen. 
Die Ausstellung ist eröffnet.

 

Unterschrift von Walter Lauche